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Schauerromantik - vom Guten und Bösen

gemoppst vom Sokratischen Marktplatz 2012
 

Hallo, Freunde der Romantik,

 

nun auch Schwarze Romantik. Gibt’s denn eine weiße? All diese Begriffe Aufklärung, Napoleon, romantische Ironie, Schattenwelt, die einem wie Schrapnelle um die Ohren zischen, dass es einem geht wie der Schlafenden auf dem Bild „Der Nachtmahr“ von Johann Heinrich Füssli: der personifizierte Alptraum hockt einem auf der Brust, „während ein wahnsinniges Pferd mit lüstern geweiteten Nüstern über ihr dräut.“

 

Ein wahnsinniges Pferd?

 

War die Psychopathologie bisher nicht das Vorrecht des Wesens, das Vernunft hat und dessen Vernunft sich verwirren kann? Kann Natur verrückt werden?

 

Shame on you, im Schauerbereich solche Fragen zu stellen. Wer eine solche Ausstellung besucht, muss vermutlich den Atem anhalten, auf Zehenspitzen laufen und keine dämlichen Fragen stellen. Der SPIEGEL hat alles unbeschadet überstanden. (Karin Schulze über die Ausstellung „Schwarze Romantik“ in Frankfurt)

 

Ein Nachtmahr war ein Nachtalb, ein merkwürdig Wesen, das des Nachts auf dem Menschen lastet. Ein kleines schwarzes Wesen, das durch Schlüssel- oder Astlöcher eindringt und dem Träumenden Angst und Atemnot bringt.

 

Klingt nach Verfassungsschutz und geheimer Überwachung. Unmöglich, der Mahr hat mit Erotik zu tun. Meint da jemand tierischen Sex, der verboten ist und des Nachts in Angst- und Lustträumen den Gehemmten der Triebabfuhr näher bringt?

 

Mit Eros kann das nichts zu tun haben, Eros ist ein schöner Knabe, Sohn ...

... der armen Göttin Penia und des reichen Gottes Poros, über den im hellen Sonnenschein und bei vollem Bewusstsein philosophiert wird.

 

(Hier sehen wir übrigens, dass Reichtum und Armut sich näher kommen müssen, um menschlich-erotische Verhältnisse herzustellen. Wäre die „Schere“ zwischen Penia und Poros zu weit gewesen, hätt‘s nie einen Eros gegeben.

 

Doch, ach, der reiche Poros muss besoffen sein, damit Penia ihm den Zeugungssaft rauben kann. Das war die Rache des Patriarchats an den Urmüttern, die im Matriarchat fürs Zeugen allein zuständig waren, dass sie ohne Männer nichts mehr zuwege bringen. Sie müssen die Männer geistesabwesend machen, um ihnen ihr Bestes zu entlocken: zum Samenraub verurteilte Gebärerinnen des Lebens.

 

Seit Beginn der Hochkultur sind Männer allein zuständig fürs Kindermachen, weshalb Kinder ihr absolutes Eigentum sind. Bei Lots Töchtern nicht anders. 1.Mos. 19,30 ff: „Komm, wir wollen unserm Vater Wein zu trinken geben und uns zu ihm legen, dass wir durch unsern Vater unsern Stamm erhalten“. Der Vater bleibt unschuldig am Inzest, denn „er merkte nichts davon“. Nur durch Sünde können die Töchter den Stamm retten. Wenn‘s um heilige Ziele geht, ist jede Moral aufgehoben.)

 

Sind wir im viktorianischen Zeitalter, wo sexuelle Begehrlichkeiten mit teuflischen Wesen verknüpft sind? Wie ick den Laden hier kenne, kann das lüsterne Pferd nur Symbol für den Vater sein, den die inzestuöse junge Dame ödipal begehrt, allein, der Pfarrer hat‘s verboten. Also ab ins düstere Traumleben, die Nacht ist die Region des Verbotenen, Sündigen.

 

Wie kam Füssli, Zeitgenosse der Aufklärung, dazu, solche Schreckgespenster auf die Leinwand zu werfen? Die Autorin weiß es: „Eben noch hatten die Aufklärung, die Erhellung der Welt durch die Vernunft, und Ideale von klassischer Schönheit und ausgewogenem Maß das Denken bestimmt.“ Doch jetzt passiert etwas, was – wenn man heutigen Medien glauben will – gegenwärtig jeden zweiten Tag passiert: ein Epochenbruch.

 

Ständig leben wir im Umbruch der Zeiten. Da bleibt kein Auge trocken und kein Stein auf dem andern. Damals war es die verdammte Französische Revolution, die das Klassische, das Ausgewogene, das Maßvolle ins Kippen brachte. Und dies im Namen der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit? Waren denn die Klassiker unfrei, ungleich und unbrüderlich?

 

„Die eben noch politisch-konkrete Hoffnung“ verlagerte sich auf „Werte wie Liebe und Freundschaft, auf das Erkunden von Innenwelten des Subjekts und die Sehnsucht nach Einheit im Unendlichen.“ Hatten denn die kalten, kopfgesteuerten Aufklärer kein Interesse für Liebe und Freundschaft, kein Interesse für Innerlichkeit?

 

Okay, wer Sehnsucht nach dem Unendlichen hat, kann nur maßlos sein, denn das Unendliche kann mit irdischem Maß nicht ausgemessen werden. Einheit mit dem Unendlichen ist Religion. Doch der Begriff Religion kommt im ganzen Artikel nicht vor. Warum nur?

Soll heilige Religion nicht mit Nachtmahren und geilen Nymphen verseucht werden? Da hat Religion sich mit wüsten Gesellen eingelassen, aber soll das was Neues sein? Ist der Siebenschwänzige nicht von Anfang an Bestandteil des religiösen Programms, wo er sich in Form einer Schlange ins Paradies einschleicht und – schon wieder – die Frau betört.

 

Es muss geheime Beziehungen zwischen Weib und Satanas geben. Gegen diese verfluchte Liaison helfen nur Hexenprozesse und seriöse Herren mit dem Kreuz auf der Brust. Die Frau kommt gegen den Mann nur an, wenn sie sich mit der Ausgeburt der Hölle verbindet. Anders kann man ihre ganze schwefelhaltige Emanzipation überhaupt nicht erklären.

 

Die Romantik hat den Nachtmahr gar nicht erfunden, der ist die Originalerfindung mittelalterlicher Gottesgelehrter, die von Succubi und Inkubi sprachen. Jaja, die Romantiker wollten das Mittelalter in die Neuzeit übertragen. Doch von Mittelalter und Regression ist im Artikel auch kein Wörtchen zu lesen.

 

Womit wir noch immer nicht die Rätselfrage aufgelöst haben, warum es ein Epochenbruch sein muss, wenn Menschen sich nach Liebe und Freundschaft sehnen und damit die Französische Revolution ad acta legen. Sind menschliche Urbedürfnisse kein Bestandteil politischer Systeme oder gar von Revolutionen, die das Menschliche bringen sollen?

 

Doch stopp, selbst heute noch ist „staatliche“ Fürsorge kein Liebesakt derer, die Steuern dafür bezahlen, damit es dem kranken und schwachen Nachbarn besser geht. Das wäre ja Gesetz, und Gesetz ist immer kalt und seelenlos. Sokrates muss ein Hansnarr gewesen sein, dass er für das seelen- und lieblose Gesetz sein Leben gab.

 

Peter Sloterdijk ist auch renommierter Philosoph, und der will nur Steuern zahlen, wenn er just einmal Liebesgefühle gegen seine Mitmenschen hegt, was auch nicht jeden Tag vorkommt. Was sein armer Nachbar tut, wenn der Denker einmal keine Steuern zahlen will, muss den Sponsor nicht interessieren – soll sich doch der Staat drum kümmern.

 

Doch jetzt kommen wir dem Epochenbruch näher. Die Französische Revolution ist umgekippt. Aus geordneten Bittstellern mit genehmigten Flugblättern wurden reißende Terroristen und Bürgerkrieger. Da hatten die anfänglichen deutschen Sympathisanten – zu denen auch Hegel, Hölderlin und Schelling in Schwaben gehörten – plötzlich die Schnauze voll, verfluchten die terroristische Formel von der Brüderlichkeit und schworen aller Gleichheit und Freiheit wieder ab – und wurden deutsche Ästheten und Romantiker.

 

Keine Politik mehr! Das bringt‘s nicht, Leute! Wir ziehen uns in die Innerlichkeit zurück und erobern die Theater und Museen. Da sie auf äußerliche Freiheit pfiffen, erfanden sie die berühmte deutsche innere Freiheit. Die konnte kein Napoleon erobern.

 

Im Innern waren die Deutschen unüberwindbar. Da hatten sie auch unbegrenzte Meinungsfreiheit, denn die Gedanken sind frei, wer kann sie erraten? Kein Jäger kann sie erschießen, auch Napoleon nicht. Weshalb man sagen müsste, die Franzosen haben Deutschland gar nicht erobert. Die haben nur das äußerliche Land besetzt.

 

(Goethe machte sogar ein Plauderstündchen mit dem Korsen und ließ sich von Monsieur l’empereur bauchpinseln, der seinen Werther gelesen haben wollte. Von Hegel nicht zu reden, der den Kaiser als Weltgeist auf dem Schimmel durch Jena reiten sah. Im Ersten Weltkrieg wären beide Herren wegen mentaler Sabotage füsiliert worden.)

 

Wenn die Franzosen keine ordnungsgemäße Revolution mit genehmigtem Betreten des königlichen Rasens hinkriegen, schwören die Deutschen sofort aller Aufklärung ab und stürzen sich auf Nachtgespenster und gemalte Alpträume. Sollen die Franzosen ruhig sehen, was sie sich damit eingebrockt haben. Geschieht ihnen recht, wenn die preußischen Untertanen beginnen, ihr königliches Paar in den Himmel zu heben und die Obrigkeit zu verherrlichen.

 

Doch was mussten sie sehen, als sie sich ihrem Innern widmeten? Der Gang ins Innere der Deutschen – Freud würde vom System Unbewusstes sprechen – war die reinste Höllenfahrt. Da hätte selbst Dante zur Ausmalung des Infernos noch dazulernen können. „Mit dem tiefen Blick in die Innerlichkeit kochte auch allerhand Unheimliches und Unbewältigtes hoch: Tote und Untote, Märchen, Mythen und Mörder, Wahnsinn und Begierde, abgeschlagene Köpfe und Medusenhäupter.“

 

Wem es hier nicht graust, der ist unwürdig, die deutschen Schaudergewölbe zu betreten – vermutlich ist er ein beratungsresistenter dogmatischer Aufklärer.

 

Doch kein Mensch fragt, wo die Deutschen den ganzen untoten Plunder her hatten, um ihr Es vollzustopfen. Und was sagte das kollektive deutsche Über-Ich zur Abwendung von Aufklärung und Menschenrechten? Es sagte vollinhaltlich Ja zum völkischen Es.

 

Wo Es war, soll Ich werden, sagte der junge Freud. Später bereute er seinen jugendlichen Leichtsinn. Seit Religion & Dax gemeinsam die Regie übernommen haben, steht das Motto auf dem Kopf. Wo Ich war, soll wieder Es werden, das ist spannender, sagt Karl Heinz Bohrer, der einzige Intellektuelle, der uns übrig geblieben ist.

 

Und alle Ästheten rufen freudig hinterher: Wir wollen kein Ich mehr sein, wir wollen uns altes Es wieder haben. Wir brauchen was zum Gruseln, das Spießerleben ist grauenhaft langweilig.

Warum begnügt ihr euch dann nicht mit dem schönsten Gruseln aller Zeiten: der langweiligen Normalität? Womit ihr beweisen könntet, dass die extravagantesten Ästheten – die Spießer sind.

 

Spaß beiseite, jetzt wird‘s ernst. Jetzt kommt kaltes System.

 

  • Die Deutschen sind doch ein christlich sozialisiertes Volk, oddr? Ja.
  • Dann müssen sie das Gute tun und das Böse lassen, oddr? Ja, natürlich.
  • Wenn sie das Gute tun, was machen sie dann mit dem Bösen? Zum Teufel, woher soll ich das wissen?
  • Richtig, sie jagen das Böse zum Teufel. Teufel? Gibt’s schon lange nicht mehr! Der Erlöser hat ihn besiegt.
  • Langsam. Sündigen die Menschen noch? Sündlose Menschen gibt es nicht!
  • Was heißt dann der Satz: „Wer Sünde tut, der ist des Teufels?“ (1.Joh. 3,8)? Zum Teufel mit deiner fundamentalistischen Buchstaben-Deutung.
  • Wenn der Fromme das Gute tut, was macht er dann mit seinen bösen Triebregungen? Überwältigt und verdrängt er sie oder verdampft er sie zu nichts? Menschen ohne böse Triebregungen gibt es nicht. Er muss sie verdrängen.
  • Verdrängen heißt – verschieben, unterdrücken, unsichtbar machen? Verschieben und möglichst unsichtbar machen.
  • Wohin verdrängt er sie? Wohin wohl, in seine untersten Seelenkammern.

Eben – damit hätten wir den Umschlag von der Aufklärung in die Schauerromantik erklärt. In der Romantik erbrach sich das kollektive System des Unbewussten der Deutschen und spuckte den ganzen verdrängten Seelenmüll vieler christlicher Jahrhunderte aus.

 

Alles, was sie nie durften und dämonisieren mussten, die riesigen Deponien ihres Verbotenen und Geächteten, wurde von Künstlern, die sich vor dem höllischen Anblick am wenigsten fürchteten, aus dem Dunkel der Seele ans Licht geholt und auf die Leinwand geworfen. Penibel notierten sie ihre Alpträume in Wort, Bild und Ton. Ohne diese romantischen Tiefenseelenerforscher wäre Freud nicht möglich gewesen.

 

Dann war die Romantik eine selbsttherapeutische Epoche der Deutschen?  Was sonst, jede künstlerische Epoche von Rang ist eine nationale oder internationale Kollektivtherapie. Sei es im Finden des Guten, sei es in der Entsorgung des Bösen.

 

Jede Moral ist eine Scheidung des Guten vom Bösen. Aber nicht jede Moral produziert mit dem separierten Guten eine Anhäufung des verdrängten Bösen. Denn nicht jedes Gute benötigt die Verdrängung des Bösen.

 

In der Religion ist der Mensch zu guten Taten aus eigener Kraft nicht fähig. Sein Gutes besteht im Verdrängen des Bösen, das sich in seiner Seele aufsummiert, doch so, dass er es nicht wahrnehmen muss. Das Böse sammelt sich im Unbewussten, ohne Chance, sich zu verringern – bis es dem Menschen über den Kopf wächst und aus allen Poren dringt.

Dann kommt‘s zu nationalen Hetzjagden auf Minoritäten, zu internationalen Kriegen gegen Feinde oder zu Attacken gegen die Natur.

 

Abgeriegelte Religionskulturen sind ohne solche ventilierenden Eruptionen nicht denkbar. Sie sind unfähig, ihre bösen Spaltprodukte in sich zu verarbeiten, ohne andere zu beschädigen. Sie reinigen sich durch externes Beschädigen derer, die sie als Glaubensfeinde betrachten.

Auch Vernunftmoral wählt das Gute und verwirft das Böse. Doch das vernünftige Gute beruht nicht auf Verdrängung des Bösen. Es muss nichts verleugnen oder auf Sündenböcke projizieren, denn es muss nichts dämonisieren. Es „glaubt“ nicht an das Böse, das es durch Glauben nicht mächtig und unüberwindbar machen will.

 

Es besitzt die Kraft, die Ursachen des Bösen zu verstehen und durch Einsicht zur Bedeutungslosigkeit schrumpfen zu lassen. Das vernünftige Gute kann lernen, indem es der Wiederholungsgefahr des Bösen durch Erkennen widersteht.

 

Was nicht bearbeitet ist, muss sich immer wiederholen. Ist das Böse von Grund auf verstanden, haben Erinnern und Durcharbeiten die Wiederholungsgefahr gebannt.

Religiöse Moralen vermindern nicht das Böse, sie deponieren und stapeln es im Verborgenen, bis sie nicht mehr in der Lage sind, es unter Kontrolle zu halten und gezwungen sind, die nächste ventilierende Eruption auszulösen.

 

Die europäische Aufklärung hatte schlaglichtartig die Schattenseiten der Religion ins grelle Licht gerückt: als wäre ein Meer abgeflossen und hätte seine grauenhaften Hinterlassenschaften den Blicken freigegeben. In dieser kathartischen Hinsicht gehört die Romantik unauflöslich zur Aufklärung.

 

Doch gleichzeitig verneinten die Empfindsamen die Aufklärung und regredierten in die heile Epoche des mittelalterlichen Glaubens, dessen religiöse Erbschaften sie ins Weltliche und Politische transformierten und den folgenden Epochen als schwere Hypotheken vermachten.

Ein Grundprinzip des romantischen Lebengefühls definierte Friedrich Schlegel als „Selbstschöpfung und Selbstvernichtung“. Es war nichts anderes als die christliche Schöpfung aus dem Nichts und in das Nichts. 100 Jahre benötigte das Prinzip, um bei den Deutschen zur selbsterschaffenden und selbstvernichtenden Politdoktrin zu gerinnen.

Hinzu kommt, dass die Naturfeindschaft der Moderne fest auf romantischem Boden steht, der fest auf christlichem Boden steht.

 

Fichtes gottähnliches Ich, das die Welt in der Allmacht des Subjekts setzt, definiert seine Beziehung zur äußerlichen Natur, dass er „der Dinge nicht bedürfe und sie nicht brauche, weil sie seine Selbständigkeit und Unabhängigkeit von allem, was außer ihm ist, aufheben und in leeren Schein verwandeln.“ Also musste er Natur in leeren Schein oder ins Nichts verwandeln, damit der Allmacht des homo triumphans nichts mehr im Wege stand.

 

Die Selbstverherrlichung des Ich wurde zum Nabel der modernen Naturverachtung und Naturvernichtung. Der Mensch will von nichts mehr abhängig sein, was er nicht selber ist. Also erfindet er eine zweite Natur, um die erste im Orkus zu versenken.

 

Wohl gab es bei den Romantikern poetisch-verklärende Schilderungen der Natur. Doch poetisches Verklären einer blauen Blume als Symbol der Erlösung ist noch lange keine Rettung vieler gefährdeter Blumen auf der unpoetischen Erde.

 

In ihrer Verachtung der unverklärten Natur gehört die Romantik zur verhängnisvollen Vorläuferin der Moderne.